Meeresschildkröten sind für uns Menschen zu einem großen Teil unbekannte Wesen: Richtig sichtbar werden sie meist nur, wenn sie an ihre Heimatstrände zurückkehren, um Nester zu graben und Eier zu legen. Was sie in der Zwischenzeit wann, wo und wie ganz konkret tun, bleibt selbst Naturforschern teils ein Mysterium, um es einmal etwas blumig auszudrücken – auch dies macht natürlich den Reiz dieser faszinierenden Meeresbewohner aus.

Für Wissenschaft und Forschung kann gerade dieser Umstand allerdings ein Problem darstellen: Denn wo man den Tieren nur hin und wieder in ihrem natürlichen Lebensraum begegnet, da sind sie auch ein schwieriges Untersuchungsobjekt. So muss manch eine lang geglaubte Gewissheit vielleicht irgendwann wieder über Bord geworfen werden: Wie zum Beispiel die tatsächliche Anzahl von lebenden Meeresschildkröten in daraufhin untersuchten Population in aller Welt. Denn diese beruhen zu einem großen Teil auf statistischen Hochrechnungen.

Aufmerksam gemacht auf diesen Umstand hatte zuletzt Nicole Esteban von der Swansea University. 2017 erschienen die Ergebnisse ihrer Untersuchung, die auf einer ganz simplen Beobachtung beruhten: Weibliche Tiere legten deutlich mehr Nester, als gemeinhin als Anhaltspunkt unterstellt wird. Dies würde aber die bisher gemachte Rechnung deutlich verändern: Anhaltspunkte für die Zählung sind zum einen Anzahl der Nester, die die Schildkröten am Strand zurücklassen. Diese wird durch die Anzahl an Nestern geteilt, die eine weibliche Schildkröte durchschnittlich innerhalb einer Nistsaison legt; heraus kommt die Anzahl der weiblichen Meeresschildkröten die an diesem Strand nisten. Wenn aber nun eine Meeresschildkröte nicht drei, sondern tatsächlich eher sechs Nester legt, wie etwa im gezeigten Fall, dann halbiert sich die vermutete Anzahl.

Eine noch akutere Gefährdung

Estebans Beobachtung reiht sich ein in eine Auswahl weiterer Forschungsergebnisse, wie auch die Wissenschaftsredaktion des US-amerikanischen „Atlantic“ erklärt: Demnach sind sowohl Anton Tucker vom Mote Marine Laboratory als auch Nicola Weber von der University of Exeter 2010 bzw. 2013 zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Webers Beobachtungen bezogen sich auf die Grüne Meeresschildkröte, während Tucker Unechte Karettschildkröten in Florida markierte und zählte.

Egg laying of a loggerhead turtle, Boavista

Eiablage einer Unechten Karettschildkröte auf Boavista, Kap Verde

Detaillierte, verlässliche Angaben zur Population einer Spezies aber sind das Herzstück aller Anstrengungen zu deren Schutz. Dies betonte auch Nicole Esteban in der Einleitung zu ihrer Studie. Logistisch sei es ein großer und manchmal unmöglicher Aufwand, die jeweiligen Tiere individuell zu identifizieren und ihr Nistverhalten aufzuzeichnen. Der Rückschluss auf Populationsgrößen von den Nestern allein kann aber,  aber, wie sie und andere nachgewiesen haben, durchaus zu falschen Ergebnissen führen. Die Schlussfolgerung daraus lautet schließlich: Um die Populationen der Meeresschildkröten weltweit könnte es deutlich schlechter bestellt sein, als bisher angenommen. Womöglich gibt es sogar nur noch bis zu halb so viele Exemplare weltweit. Dann aber wären sie noch viel akuter gefährdet, und mit ihnen das Ökosystem Meer, zu dessen Gleichgewicht sie ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.

Die Ergebnisse könnten somit auch Auswirkungen auf die tägliche Arbeit in den Schildkröten-Niststränden am Strand haben: Zählungen von Nestern und Gelegen allein dürften demnach nicht mehr aussagekräftig genug sein. Die Ausstattung von Schildkröten mit Satelliten-Sendern ist sehr kostspielig und daher wohl keine flächendeckende Option, um die Meeresschildkröten-Populationen zu bestimmen. Zumindest für die Grüne Meeresschildkröten in ihrem Beobachtungsgebiet hat Nicole Esteban schon eine Lösung gefunden: Sie beobachtete, dass die Tiere ihre Nester quasi im Uhrzeigersinn alle 10 bis 11 Tage anlegen. Damit kann mit deutlich günstigeren Markierungs-Methoden genau bestimmt werden, wie viele Nester von einer einzelnen Schildkröte gelegt wurden.

Tagging of a loggerhead sea turtle on Boavista, Cape Verde

Markierung einer nistenden Unechten Karettschildkröte

Mehr zu den Forschungsmethoden der vorgestellten Wissenschaftlerin und ihren Untersuchungsergebnissen: Esteban N, Mortimer JA, Hays GC., 2017: How numbers of nesting sea turtles can be overestimated by nearly a factor of two. Proc. R. Soc. B  284: 2016–2581. Originalartikel: http://dx.doi.org/10.1098/rspb.2016.2581

Artikel im „The Atlantic“: https://www.theatlantic.com/science/archive/2017/02/there-may-only-be-half-as-many-sea-turtles-as-we-thought/516624/

Bild oben: Nistende Unechte Karettschildkröte auf Boavista, Kap Verde
Bilder: Thomas Reischig, Turtle Foundation
Text: Katharina Cichosch, Thomas Reischig